KolumneMarie - 03

Man muss sich nicht

immer gleich zerveganen

In Zeiten von Fake News und Clickbait, bei denen man manchmal das Gefühl bekommt, es werden Preise dafür vergeben, wer die absurdeste Geschichte oder den größten Shitstorm kreieren kann, ist es eine angenehme Abwechslung, sich auf wirklich vernünftige Menschen verlassen zu können. Auf Menschen, denen 40.000 Likes und 4.000 neue Follower weniger wert sind, als 4 gute Freunde. Denn es gibt sie, diese Preise für abscheuliche Horrorgeschichten und infame Hysterie-Märchen. Die Währung sind Klicks. Klicks auf Facebook-Beiträge oder abstruse Blogs, die als Aufklärungs-Nachrichtenseiten getarnt aus dem Boden schießen und von Chemtrails, Illuminaten, Reptiloiden oder großen Verschwörungen berichten, um möglichst viele dieser Klicks zu generieren.

 

Ga Ga Land

Die Strahlkraft von 15 Sekunden Internet-Ruhm, wenn ein Beitrag 500 mal geteilt wurde, ist in unserer Generation offensichtlich größer als jeder Drang nach einem erfüllten Leben, guten Freundschaften oder einer ausgeglichenen Work-Life-Balance. Gerade heute habe ich einen als handelsübliche News aufgemachten Bericht gelesen, nachdem Justin Bieber aus der Musikszene aussteigen möchte. Er hat gerade einige seiner Konzerte abgesagt und die Fans rätseln, woran das wohl liegen mag. Ein mittlerweile mehrere 1.000 mal kommentierter Beitrag auf Facebook verweist auf einen Blog-Artikel, der beschreibt, wie Justin Bieber von den Eliten der Musikindustrie gezwungen wurde, ein minderjähriges Kind zu schänden. Das wären eben die Aufnahmeriten in dem von Pädophilen geführten Herrscher-Ring der Entertainmentbranche. Wer keine satanischen Kultrituale mitmacht, kann keine langfristige Weltkarriere starten. Musik-Mogule wie Jay Z oder P. Diddy hätten durch genau diese Rituale Zugang zu den geheimen Chefetagen der Musikindustrie erhalten und wären Milliardäre geworden.

 

Diese Story sollten Sie Bieber vergessen

Der zart besaitete Justin Bieber dagegen wollte kein Teil werden, keine Kinder schänden und zerbrach an der Info, dass der kleine Junge, der ihm auf einer Party feil geboten wurde, verstarb. Dies hätte er in einer Sitzung der Anonymen Alkoholiker vergangenen Samstag in Los Angeles zugegeben und kämpfe darum nun mit sich selber. Und dem wohl bevorstehenden Ende seiner Karriere.

Man sieht also: Der Ga Ga-Faktor kennt auf der nach oben offenen „Flüchtlinge haben ein deutsches Kind aufgegessen“-Absurditätenskala keine Grenzen. Etwas weniger martialisch, aber ähnlich wild diskutiert, geht es ja normalerweise in der Frage „Fleisch oder kein Fleisch“ zu. Verfolgt man diverse Themenseiten im Internet, muss man unweigerlich das Gefühl bekommen, es gibt nur zwei Lager: Die Menschen, die am liebsten jeden Tag 3 bis 4 Rinder, 20 Hühner und 2 Schweine auf den Grill werfen würden und sich im Zweifel ausschließlich von Schnitzeln ernähren könnten, und die Menschen, die schon beim Anblick eines Glas Honigs in eine mehrwöchige Trauer und nicht enden wollenden Weltschmerz verfallen. Beide Lager wünschen sich gerne abwechselnd den Tod oder schlimmeres. Den Rest des Lebens rund um die Uhr Songs von Modern Talking zum Beispiel.

Dabei muss man sich nur auf sein eigenes Umfeld konzentrieren. Manchmal ist es gut, sich den Irrungen und Wirrungen des „jeder darf mitdiskutieren“-Wahns im Internet zu entziehen und sich mit vernünftigen Leuten zu umgeben. Wenn ich mit Freunden grille, gibt es keinerlei böse Blicke, altkluge Vorträge über Vitaminmangel oder peinliche Fleischesser- oder Veganer-Witze. Es stehen zwei Grille einträchtig nebeneinander. Auf einem werden Steaks gegrillt, auf dem anderen Gemüse. Es gibt fantastische Salate, gegrillte Falafel, GrünGold-Frikadellen und Rindersteaks. Jeder akzeptiert, dass meine Falafel nicht unbedingt im Grillsaft eines Filet Mignon schwimmen muss, sondern auf seinem eigenen Grill zubereitet wird. Niemand verbietet den Steak-Genießern ihr Stück Biofleisch. 

Umgekehrt probieren diese Verfechter von „zum Grillen gehört auch ein Stück Fleisch“ neugierig vegane Falafels, loben den Kartoffelsalat („ach, der schmeckt ohne Ei und Mayonnaise eigentlich auch echt gut“) und erwischen sich dabei, für den Rest des Abends viel mehr vom veganen Grillplattengemüse zu naschen, als von den Thüringer Würstchen. 

 

Shitstorm, Hatespeech oder Make Love Not War

Am Ende ist aber nicht der Unterschied zwischen unseren Ernährungsüberzeugungen das Hauptthema des Abends, sondern Politik, Sport, unsere Leben, unsere Probleme. Es wird viel gelacht, viel Ernstes besprochen und ein Abend erlebt, den wir mit Sicherheit in wunderbarer Erinnerung behalten werden. Das so genannte Real Life lehrt uns, was wir auch in die digitale Welt übertragen sollten: Wenn Du dich mit den richtigen Menschen umgibst, gibt es keine Shitstorms und auch kein Hatespeech. Es gibt unterschiedliche Meinungen, die teilweise auch lebhaft und vehement vertreten werden – aber es gibt eine über allem schwebende Kultur des Respekts. Das muss keine innige, langjährige Freundschaft sein. Ein Mindestmaß an brauchbarer Erziehung und ein halbwegs brauchbarer Charakter reichen.

 

Die Hoffnung lebt

Wenn man es schafft, als Veganerin neben einem Menschen zu sitzen, der sich leidenschaftlich über ein Steak hermacht, mit ihm die Vorzüge pflanzlicher Ernährung diskutieren kann, ohne dass er sich für seinen Fleischkonsum zu entschuldigen hat und ohne dass man als veganer Vollspinner abgestempelt wird, kann man alles schaffen. Man kann mit völlig anderen Meinungen umgehen. Aus allen Bereichen. Politik, Gesellschaft, Erziehung – was auch immer unsere Generation bewegt.

 

Ein Abend mit Freunden, bei dem gemeinsam gekocht, gegrillt und gegessen wird, ist immer noch der für mich wichtigste Gradmesser dafür, den Glauben an die Menschheit nicht verlieren zu müssen. Veganer und Fleischvergötterer vereint im lauschigen Wind einer lauen Sommernacht. Lachend, sich zuprostend. Es kann so einfach sein. Lasst uns alle daran arbeiten, andere Meinungen wenigstens zu respektieren. Man muss nicht jede teilen und man muss nicht jede bejubeln. Aber jemanden zu beschimpfen, zum Beispiel für seine Überzeugung, keine Tiere essen zu wollen, ist das vielleicht die Krönung intelligenter Dialogführung oder Streitkultur? Ich finde nicht.

 

Man muss sich nicht immer gleich zerveganen

Vielleicht sollten wir alle öfter mal darüber nachdenken, ob man eine fremde Meinung erst mal grundsätzlich akzeptieren kann, anstatt sie zu beschimpfen. Das hilft vielleicht, sogar bei kontroversen Meinungen, die viel Diskussionsbedarf erzeugen. Ich jedenfalls denke jetzt vor jedem Kommentar auf Facebook zwei Mal nach, ob ich mit dem, was ich schreiben möchte, wirklich irgendjemandem etwas sagen kann, was ihm weiterhilft. Oder ob ich einfach nur Öl ins Feuer gieße, das ohnehin schon viel zu unkontrolliert flackert. Ich werde berichten, ob mir das gelingen wird.

 

Bis dahin: #VeganWerdenWasLosDigger!

Deine Marie

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